Schöner Leben

Abenteuer Bahnhofsbuchhandlung

 

Abenteuer Bahnhofsbuchhandlung
von Rolf Heinzmann

Der Zustand der Deutschen Bahn zwingt immer häufiger ihre Kunden, sich auf Bahnhöfen herumzutreiben und auf verspätete oder Ersatz-Züge zu warten. Im Winter ist es auf Bahnhöfen sehr kalt, so etwas wie Wartesäle wie früher gibt es nicht mehr, höchstens noch VIP-Lounges, in die man aber nur mit einem 1. Klasse-Flex-Ticket oder einer Bahncard 50 1. Klasse mit Bahnbonusoption gelassen wird.

Eine guter Ort, um Wartezeiten sinnvoll zu nutzen, sind Bahnhofsbuchhandlungen. Die am Frankfurter Hauptbahnhof nutze ich schon seit einiger Zeit sehr gerne. Und es ist unglaublich, wie sich dem ahnungslosen Betrachter der Zeitschriften völlig neue Welten eröffnen. Es ist abenteuerlich.

Vor allem für diejenigen, denen sich solche Lokalitäten verschließen, weil sie immer noch meinen, ausschließlich Auto fahren zu müssen oder eine gewisse Phobie (ICD-10  F40.9) gegen bedrucktes Papier entwickelt haben, werden wir in dieser Rubrik jetzt regelmäßig aus Bahnhofsbuchhandlungen berichten.

Heute berichten wir schwerpunktmäßig über die Zeitschrift „Meine Enkel & ich. Das Lifestyle-Magazin für moderne Großeltern. Nr. 2/2023, DONO Verlag“.
Leider hatte an dem Abend, an dem ich dieses „Magazin“ zum ersten Mal entdeckte, mein Zug nur 20 Minuten Verspätung, so dass mir für eine auch nur etwas sorgfältige Recherche nichts anderes übrig blieb, als dieses Heft zu kaufen. Es zu klauen wäre eigentlich dem Heft angemessen gewesen. Da ich aber inzwischen eine sichere Bindung an die Frankfurter Bahnhofsbuchhandlung entwickelt habe, war das auch keine Option mehr.

Interessant, wie das Gehirn arbeitet und wie selektiv Wahrnehmung organisiert ist. Als ich mit dem Magazin in der Hand zur Kasse eilte, hatte ich wohl die Aufmerksamkeitsbrille „Großeltern“ auf der Nase sitzen. Ich nahm im Vorübergehen das Magazin „Greta“ wahr mit der Titelgeschichte „Sein Onkel packt aus! Charles ist nicht Harrys Vater!“ Sofort konstruierte mein Gehirn, das ja zu dem Zeitpunkt auf „Großeltern“ fokussiert war, die Frage, ob Charles dann womöglich gar nicht der (leibliche) Großvater von Archi (Sohn von Meghan und wahrscheinlich Harry) ist. Anschließend wurde meine Aufmerksamkeit auf einen anderen Titel gelenkt: „Sissi – Historische Rezepte und Geschichten der kulinarischen Welt des kaiserlichen Paares“. 


Auf dem Titelbild sind Karlheinz Böhm und Romy Schneider als österreichisches Kaiserpaar zu sehen. Und schon setzte ein Suchprozess ein: Hatten die beiden Schauspieler etwas miteinander und damit später vielleicht auch Enkel? Und hatten (die echten) Franz-Joseph und Sissi überhaupt Enkel, und wären sie „moderne Großeltern“ gewesen.

 

 

Nach diesem assoziativen Abschweifen zurück zur Titelgeschichte, genauer jetzt zum Titel an sich. „Meine Enkel & ich. Das Lifestyle-Magazin für moderne Großeltern“. Wir werden jetzt zwei Eigentümlichkeiten, die in diesem Titel stecken, etwas unter die Lupe nehmen.

1) Wer ist hier eigentlich „ich“? Es ist doch ein Magazin für Großeltern! Dann müsste es doch heißen „Unsere Enkel und wir! Oder, wenn man bei dem „ich“ bleiben möchte,  „Lifestyle-Magazin für die moderne Großmutter“. Letzteres könnte auch  gemeint sein, denn es bildet ziemlich gut die Realität des Magazins insgesamt ab: Im gesamten Heft kommt ein einziger Großvater vor, in zwei Fotos an der Seite einer Großmutter. Ausgesagt wird so gut wie nichts über ihn, außer dass er die Jugendliebe dieser Großmutter ist. Alle Artikel sind von Frauen geschrieben, und im Autorinnenverzeichnis sind ebenfalls nur Frauen.

Wie ist also dieser merkwürdig und widersprüchlich erscheinende Titel zu begreifen?

Vielleicht geht die Redaktion davon aus, dass ihre Zielgruppe Großeltern sind, die hochsymbiotisch sind. Nach dem Motto: wenn sie es schon bis zur Großelternschaft zusammen geschafft haben, dann wohl nur, weil sie sich nur noch als eine Einheit begreifen, die allerdings klar und eindeutig von der Oma geführt wird. Wenn sie „ich“ sagt, meint sie daher immer sich und ihren Mann.

Eine Frage hätte ich schon an die politischen Entscheidungsträger dieser Zeitschrift: Wäre es nicht langsam angesagt, analog zur Frauenquote für Vorstände von DAX-Konzernen auch eine Männerquote für solche frauendominierte Arbeitsplätze einzuführen? Es muss ja nicht gleich 50 % sein, 25 % wäre auch schon mal ein Anfang. Vermutlich käme es – wenn auch sehr indirekt – den Enkel*innen auch zur Gute – und soll es am Ende nicht auch um sie gehen?

2) Was ist das eigentlich, ein „Lifestyle Magazin“? Im Grunde genommen verkörpert jedes Magazin einen Lebensstil (deutsche Übersetzung des aus dem angloamerikanischen eingewanderten lifestyles). Bei Stil denke ich an Nachmittagskaffee-Einladungen bei Tanten, die vornehm taten und öfters mal den Satz „das hat (keinen) Stil“ fallen ließen. Mit Lifestyle ist hier vermutlich ein Lebensstil gemeint, der stark auf Luxus und Konsum und das Präsentieren von Statussymbolen ausgerichtet ist.
Für Eltern und Großeltern mit Stil tun sich mit dem Erscheinen von Kindern und Enkelkindern riesige Spagate auf. Kinder spielen gerne im Schlamm und Dreck und weigern sich, ihr langegeliebtes, aber zerfleddertes Kuscheltier gegen ein neueres und schöneres einzutauschen. Dieser Trend ist umso stärker, je jünger das Kind. Unser Magazin ist ein interessanter Versuch, diesen Spagat zu überbrücken. Es hilft Großeltern, ihren „lifestyle“ weiter aufrecht zu erhalten und gleichzeitig „gute“ Großeltern zu sein. Darüber hinaus zeigt das Magazin auch, wie man die Heranwachsenden langsam an das Wertesystem der Erwachsenen heranführt. Dazu ein Beispiel:

Stellen Sie sich einmal, liebe Leserinnen und Leser, vor, es gäbe eine Gruppierung von UmweltaktivistInnen, sie würden sich selbst „Greens against the Greens“ nennen und gegen die immense Umweltschädlichkeit von Golfplätzen protestieren, indem sie nachts, mit Spaten bewaffnet, die Golfplätze in Nähe der „holes“ (Löcher) etwas umgraben. Der GAU (größter anzunehmender Unfall) wäre, Opa und Oma erscheinen eines Morgens auf dem Golfplatz und erfahren vom Platzwart, der eigene Enkel habe in der Nacht vandaliert. Vermutlich haben die Herausgeberinnen des Magazins auch schon ähnliche Phantasien gehabt. Wofür der Artikel auf Seite 54, „Wenn die Oma mit dem Enkel auf Golfreise geht“ ein gelungenes Gegenrezept wäre. Man sieht auf 3 Seiten, wie „Oma Helga (84)“ mit ihrem „Enkel Felix (22)“ sich auf dem Golfplatz tummelt. Die Unterkunft im Fünf-Sterne-Resort Terre Blanche Hotel Spa Golf kostet mit Frühstück und Golfplatzbenutzung ca. 700 € pro Übernachtung für 2 Personen. Das Preis-Leistungsverhältnis erscheint gar nicht mal so übel.

Mit einem anderen Beispiel möchte ich der Redaktion eine Anregung für die nächste Ausgabe geben:
Um zu verhindern, dass der/die eigene EnkelIn sich der letzten Generation anschließt und sich auf öffentlichen Straßen festklebt, könnte Opa frühzeitig, am besten 2 Jahre vor einem möglichen Erhalt des Führerscheins, der/dem eigenen EnkelIn einen kleinen „temperamentvollen“ Sportwagen schenken. Der würde halt zwei Jahre in der Garage stehen. Gleich nach bestandener Fahrprüfung fände dann die „Sponsorenfahrt“ statt. Darüber könnte man in dem Magazin berichten. Ein ansprechender Titel könnte sein“ Opa Karl-Heinz mit Enkelin Geneviève auf Spritztour durch den Schwarzwald“. Aber Vorsicht: An manchen Wochenenden ist die Schwarzwaldhochstraße überfüllt mit Verbrennungsmotoren-Fetischisten. Hier geben sich Mitglieder der Hells Angels und des Alpha Romeo Freizeit Clubs quasi die Zündschlüssel in die Hände. Lieber das Fotoshooting an einem Werktag machen.

Weiter positiv hervorzuheben ist die Schriftgröße, bei der selbst ich das Magazin ohne Lesebrille lesen konnte, was schon gefühlt ewig nicht mehr der Fall war. Altersweitsichtig gesehen holt die Redaktion Ihre Leser da ab, wo sie sind. (ich selbst bin 74). Dazu dient auch die reichhaltige Bebilderung.

Soviel für heute.

Bis zum nächsten Abenteuer in der Bahnhofsbuchhandlung