Autor: GIF_admin

Prophylaxe, Prävention, Vorsorge

Prophylaxe, Prävention, Vorsorge – „immer das A und O“?

Delphine Akoun und Rolf Heinzmann

Den Anstoß für die folgenden Zeilen gab ein Artikel über eine Beratungsstelle für Essstörungen in einer regionalen Tageszeitung. Genauer gesagt die Aussage einer Therapeutin dieser Beratungsstelle, es sei „total wichtig, schon in jungen Jahren ein gesundes Essverhalten zu entwickeln. Prävention sei das A und O.“

Haben Sie schon den Prophylaxe-Stempel für dieses Quartal in Ihr Bonusheft von ihrem Zahnarzt setzen lassen? Ah, ja, nicht vergessen!
 Krankenkassen setzen auf Prophylaxe. Sie scheinen ausgerechnet zu haben, dass die Kosten für Vorbeugung immer niedriger ausfallen als die Kosten der Krankheitsbehandlungen. Mittlerweile ist das Konzept der Krankheitsvorsorge so selbstverständlich, dass es in der Mittelschicht keine Frage mehr ist und so auch nicht hinterfragt wird.

Bei organischen Erkrankungen, bei denen nach den Ursachen geforscht wird, da sie eher klärbar sind, mag es eine sinnvolle Maßnahme sein, vorzubeugen: es ist ja dann ein Versuch wert, im Vorfeld, die Krankheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Wenn aber die Krankheitskonzepte aus der Organmedizin auf den Bereich der psychischen und Verhaltens-Störungen ausgeweitet werden, wird es grundsätzlich problematisch. Anders als bei den organischen Krankheiten ist nämlich hier die Suche nach der Ursache meist erfolglos und damit nicht zielführend. Da Prävention aber Ursachen braucht, um wirksam sein zu können, ist sie für den psychischen Bereich in den allermeisten Fällen mindestens unbrauchbar, wenn nicht kontraproduktiv.

Dennoch scheint die Verführung zur Vorsorge groß. Denn sie wird unbeirrt empfohlen, obwohl allen klar sein dürfte, dass die Ursachen psychischer Störungen nie eindeutig sind.

Übergewichtige Erwachsene, zum Beispiel, haben oft eine Essstörung entwickelt: im besten Fall essen sie normal viel und hassen sich dafür, dass sie überhaupt essen, sie hören beim Essen die maßregelnden Stimmen der Eltern, sie essen zu viel, denn: wozu das Wenige essen? Oder essen viel zu wenig, denn vielleicht hilft es ja doch. Sie fühlen sich auch im übertragenen Sinne zu viel. Gründe für die Erkrankung sind schnell benannt: falsche Ernährung und falsches Essverhalten in der Kindheit. Falsche Ernährung wird oft auf „zu viel Essen“ reduziert.

Und schon liegen die Vorsorge-Maßnahmen gegen Übergewicht und damit für psychische Gesundheit auf der Hand – die meisten übergewichtigen KlientInnen berichten davon: in ihrer Herkunftsfamilie wurde das Essen bzw. die Nahrungsaufnahme als etwas Problematisches angesehen und behandelt, und nicht als etwas, das auch Freude bereiten kann. Viele Übergewichtige wurden schon in jungen Jahren darauf hingewiesen, zu dick zu sein. Beim Betrachten eigener Fotos aus dieser Zeit wundern sie sich heute umso mehr darüber: häufig ist da ein ganz normalgewichtiges Kind zu sehen. Viele Übergewichtige berichten übereinstimmend, dass mit der ersten Diät das Unheil seinen Lauf genommen hatte.

Welche Wirkung diese Art von Prophylaxe im Kindesalter hat, sehen wir bei unseren übergewichtigen KlientInnen. Unter anderem leiden sie oft unter ihrem Übergewicht, fühlen sich unverstanden und oft nicht zugehörig. Sie haben kein inneres Maß und kein ihnen gemäßes Bild ihrer Körper. Sie verzweifeln oft daran, der Norm nicht zu entsprechen und haben auch oft einen niedrigen Selbstwert.

Dass Eltern es nicht besser wissen und ihre Kinder vor Übergewicht schützen wollen, indem sie sie beim Essen maßregeln und ihr Gewicht problematisieren, ist also problematisch. Noch bedenklicher ist allerdings, wenn Fachkräfte des psychosozialen Bereiches den Prophylaxe- Begriff völlig unreflektiert zum Beispiel im Zusammenhang mit Essstörungen öffentlich verwenden.

Gerade in Deutschland wollen interessierte Eltern es besonders gut machen. Sie verlassen sich bei der Erziehung ihrer Kinder oft auf die Meinung von Fachkräften.

Noch generalisierter gesehen müsste man grundsätzlich bei allen pädagogischen Maßnahmen die erwünschten Wirkungen den unerwünschten Nebenwirkungen im Vorfeld gegenüberstellen. Wenn bei einem befürchteten „Entwicklungsdefizit“ eines Kindes Fördermaßnahmen ergriffen werden, dann wäre die erwünschte Maßnahme die Beseitigung oder Reduktion des Defizits. Eine mögliche Nebenwirkung wäre hier, dass sich das Ganze negativ auf das Selbstwertgefühl des Kindes auswirkt. Denn allein die Tatsache der Förderung impliziert eine Haltung „So wie du bist, bist du nicht in Ordnung“. Ein weitere Nebenwirkung wäre die Schwächung der Autonomiebestrebung des Kindes seinen Eltern gegenüber, die ihm/ihr kein Vertrauen in seine Selbstregulation und eigenen Entwicklungsrhythmus vermitteln und besser wissen, was für ihn/sie gut ist: „Wir wollen ja nur dein Bestes.“

Wenn zu der Vermeidung von Essstörungen Prophylaxe gefordert wird, dann müsste man sie konsequenterweise bei allen möglichen psychischen oder Verhaltens-Störungen fordern: Depressions-, Angst- und Panik -, Perfektionismus-, Psychose- und Narzissmuspräventionsmaßnahmen wären eigentlich angesagt, um nur wenige zu nennen. Da eine Generalprävention für alle psychischen Störungen nun nicht wirklich vorstellbar ist, müsste man schon im Kleinkindalter eine Art Diagnose-Prognose entwickeln, aufgrund deren festgelegt würde, welche besondere Prävention das Kind bekommen sollte. So beschrieben ist es eine absurde Vorstellung, doch in der Praxis wird sie, unterstützt von solchen Forderungen nach mehr Prophylaxe, öfter umgesetzt als man denkt. Die Liste der negativen Implikationen, die ein solcher Umgang mit Kindern zur Folge haben kann, ist leicht zusammenzustellen.

Und jetzt? Was sollen wir denn machen, wenn wir sehen, dass unsere Kinder gerade zunehmen, die stets steigenden Übergewichtsraten von Kindern und Jugendlichen regelmäßig in der Presse lesen und von Fachkräften Prophylaxe als A und O empfohlen bekommen – werden Sie vielleicht fragen.

Wenn wir das wüssten! Wir sind nicht die besseren Pädagogen oder Eltern. Wir wollen und können daher lediglich für die Haltung des Nicht-Wissens werben und aus Louis Armstrong’s Lied „What a wonderful world“ in die Welt hinaussingen:

„I hear babies cry
I watch them grow
They learn much more
Than I’ll never know“

Rolf Heinzmann zur Gestalttherapie

Podcast mit Rolf Heinzmann

zur Gestalttherapie der 70er und 80er Jahre bis heute.

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In dieser Folge sprechen wir mit Rolf Heinzmann. Er ist Arzt und Physiker und arbeitet seit über 40 Jahren als Gestalttherapeut und als Ausbilder für Gestalttherapie. Wir sprechen mit ihm über die
Gestalt-Gruppentherapie der „wilden“ 1970er und die Veränderungen der Gestaltszene ab den 1980er Jahren.

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