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Brief #1

  #1 
Mai ‘24

Liebe Blog-Leser*innen,

jetzt kommt er, mein erster Brief an euch!  Ich habe richtig Lust, euch zu erzählen, was sich alles so tut, bei mir in der Praxis.

Der Austausch darüber vermisse ich nämlich, merke ich zunehmend. Unsere Arbeit ist ja ein ständiges work in progress –  vielleicht ist es daher etwas schwierig eine gute Form des Austausches darüber zu finden. Keine Ahnung – ich erzähle einfach!

Ende letzten Jahres ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken, irgendwie zuviel zu arbeiten. Mir fehlten zunehmend Zeiten der Muße, in der ich einfach meinen Ideen, Gefühlen, Gedanken in Ruhe nachhängen konnte.

In der Zeit – wahrscheinlich kein Zufall – fragte ich mich immer mal wieder, wie ich als Einzeltherapeutin vielleicht mit dazu beitrage, den Veränderungsprozess und -wunsch meiner Klient*innen aufzuhalten.

Mittlerweile ist es mir erfreulicherweise klar, dass ich diese Frage gar nicht wirklich beantworten kann, und dass sie eigentlich vor allem dazu da ist, mich in kreative Unruhe zu versetzen und meine Arbeit als Einzeltherapeutin immer wieder in Frage zu stellen.

Und so kam es, dass ich nach und nach mit  allen meinen langjährigen Klient*innen das Dilemma besprach, in dem wir jeweils aus meiner Sicht immer wieder drohten unbemerkt stecken zu bleiben:

Sie und ich, als langjähriges Team, wollten einerseits Veränderungen bewirken, taten dies aber in einem immer gleichen Setting. Bei allen Vorteilen dieses über Jahre eingespielten Settings stehe es vielleicht gleichsam, bei aller Kreativität und Wille zur Veränderung auf beiden Seiten, der gewünschten Veränderung im Weg… Allen leuchtete das beschriebene Dilemma ein. Es konnte daher wahrscheinlich nicht schaden, erst einmal das Setting zu verändern! Und so unterbreitete ich ihnen einen Vorschlag:

Ich lud sie nach und nach alle ein, zu mir für eine längere Zeit in eine neu zu bildende Gruppe statt in Einzeltherapie zu kommen. So leite ich seit Anfang dieses Jahres eine neue Selbsterfahrungsgruppe! Sie setzt sich aus (ehemaligen) Einzelklient*innen zusammen (mit einer Ausnahme) und macht richtig Spaß!

Zum einen werden mir nach einem knappen halben Jahr im Rückblick einige Prämissen des Einzelsettings durch die Arbeit in der Gruppe immer klarer. Ich versuche mal zu erläutern, was ich damit meine:

Wenn alles gut geht, so lädt das Einzelsetting ja ein, sich aufeinander einzutunen. Gelingt es, so entsteht dadurch viel Raum für neue mögliche Erfahrungen. Sicherheit, Vertrauen und Wärme in Beziehungen sind natürlich gute und häufig notwendige Ingredienzen, um Neues zu wagen oder in Gang zu setzen – so auch im Einzeltherapiesetting. Alle diese Vorteile einer guten komplementären Beziehung können aber auch unmerklich dazu führen, dass Klient*in und Therapeut*in in eine beidseitige Konfluenz geraten, die ein differenziertes Betrachten des Gegenübers und der Themen erschwert.  Die Tatsache, dass das Einzelsetting immer nur ein minimaler Ausschnitt aus dem Leben der Klient*in darstellt, kann diese Tendenz verstärken. Und, wenn die These von Satir auch noch stimmt – die Zweierbeziehung sei die gefährlichste Beziehungsform, gerade weil sie einseitig kündbar sei und damit an einer einzigen Person hänge -, dann müssten wir uns eigentlich nicht wundern und auch nicht nur mit einer individuellen Neigung unserer KlientInnen erklären, dass sie oft scheinen, es uns besonders leicht zu machen und … wir es ihnen! J Als Einzeltherapeut*innen befinden wir uns gleichsam in einer – wie auch immer jeweils anders und neu gearteten – Zweierbeziehung mit unseren jeweiligen Klient*innen. Ich habe mir dabei bisher nicht bewusst gemacht, dass sie an sich ein Rahmen sein kann, der als solcher besondere Vorsichtsmaßnahmen braucht und zwar vor allem von der Person, die diese Beziehung aufsucht. Vielleicht führt dieser Umstand – jenseits von konfluenten Mustern – mit dazu, dass KlientInnen sich leicht an uns anpassen und wir an sie?

Wenn ich mir das alles bedenke, dann wird mir gleichsam umso bewusster, wie sehr es eine unserer Hauptaufgabe als Einzeltherapeut*innen wohl ist, immer wieder für Verstörung dieses eingespielten Settings zu sorgen. Supervision kann sicher dabei auch hilfreich sein, vor allem als Live-Supervision. Aber wer begibt sich von uns schon in Live-Supervision? Die normale Supervision ist keine Supervision einer Therapiesitzung, sondern die Supervision einer Erzählung einer Therapiesitzung, wobei wir dann auch nur erzählen, was uns beschäftigt – oder das, womit wir uns am besten mit unserer Supervisor*innen eintunen? Wer weiß es schon?! Den Gedanken habe ich übrigens von Jay Halay – kennt ihr ihn? Ein wunderbarer, leider nur noch zu lesender Therapeut – kann ich euch nur empfehlen, falls ihr ihn noch nicht kennt!

Unverhofftes bewirkt erwiesenermaßen vielleicht die meiste Veränderung in Einzeltherapie und Unverhofftes geschieht immer mal wieder: Ich, als Therapeutin komme zu spät oder oder … Doch das entfaltet seine fruchtbare Wirkung, gerade dadurch, dass das selten geschieht. Auf Unverhofftes können wir also weder hoffen noch bauen!

Zum anderen bringt mich die Arbeit mit dieser Gruppe dazu, Gruppen- und Einzelsetting zu vergleichen. Und dies nicht zuletzt, weil ich meine bisherigen Einzelklient*innen in der Gruppe ganz anders als im Einzelsetting erlebe. Es ist ja klar, werdet ihr sagen! Sie interagieren mit anderen Menschen und so nehme ich sie anders wahr, als wenn sie alleine mit mir in einem Raum sind. Klar! Und: sie verhalten sich allerdings ganz anders, als ich vermutet hatte, dass sie es in einem Gruppenkontext tun würden. Das ist frappierend und etwas verstörend für mich, denn ich meinte, sie so gut zu kennen. Wie kann ich sie so anders eingeschätzt haben? Mir fällt bisher nichts anderes ein, als diesen Umstand mit der Begrenztheit der  Zweierbeziehung, die das Einzelsetting darstellt, zunächst zu erklären.

Eine Gruppe ist wiederum wohl ein Setting, das auf eine bestimmte Art mehr soziale Sicherheit bereithält, als eine Zweierbeziehung – zumindest nach Satir. Keins der Mitglieder kann an sich das Bestehen der Gruppe unmittelbar gefährden (was vielleicht auf der anderen Seite das Kündigen der Gruppenzugehörigkeit auch schwierig machen kann).

Ich weiß nicht genau wieso, aber es scheint mir hilfreich im Moment, diesen Gedanken nicht aus den Augen zu verlieren.

Er passt auch zu meinem Erleben meiner Einzelklient*innen in der Gruppe:

Sie haben sich überraschend schnell als Gruppe formiert, sich gegenseitig vertraut, ihre Verletzlichkeit gegenseitig gezeigt und sich bei aller ungeordneten Empfindungen den Anderen hingegeben.

Sie lassen sich alle ungewöhnlich offen auf den Gruppenprozess ein, empfinden die Gemeinschaft als wohltuend und tragend und erkundigen sich um einander, wenn jemand fehlt. Sie begeben sich ins Unbekannte und schonen sich nicht, lachen auch gerne miteinander.

Die Gruppe scheint für sie zu einem Vertrauensraum geworden, in dem sie sich zugehörig fühlen, was allein sie bewegt, für sich einzustehen und für andere da zu sein.

Der einzige gemeinsame Nenner aller Teilnehmer*innen ist, dass ich deren Einzeltherapeutin war. Inwiefern dieser Umstand das Vertrauen untereinander stärkt, ist unklar, auch wenn es nahe zu liegen scheint. Man könnte sagen: Alle kennen mich sehr gut. Ich, als Leiterin der Gruppe, habe zu jedem Gruppenmitglied eine sichere langjährige Bindung, die vor der Gruppe entstanden ist. Auch wenn ich sicher für sie als Gruppenleiterin ebenso überraschend bin, wie sie für mich, spielen die einzelnen Bindungen wahrscheinlich eine  Rolle, bei der Bereitschaft sich in der Gruppe einzulassen. Ob es so ist, kann ich aber nicht definitiv sagen.

Fakt ist allerdings, dass ich als Leiterin bei den Gruppensitzungen gefühlt für alle ziemlich unwichtig bin. Sie beziehen sich im Laufe des Abends wenig auf mich, achten meiner Wahrnehmung nach wenig auf meine Reaktionen – die Mitstreiter*innen scheinen wichtig, wirklich im Fokus der Einzelnen, nicht die Leitung.

Das hat mich sehr erleichtert, dies festzustellen, denn ich hatte erwartet, dass zuerst das Weiterbestehen der Einzelbeziehungen geprüft wird, nach dem Motto: “Mag sie mich wirklich so, wie sie immer getan hat, oder mag sie jemanden anders lieber?“

Meine Sorge also, es könnte sein, dass Einzelne sich benachteiligt fühlen, wenn sie mich nach vielen Jahren „Einzelkindstatus“ mit bisher anderen ungeahnten „Geschwistern“ teilen müssen, scheint bisher völlig unbegründet.

Vielleicht ist es so einfach: Wenn Menschen sich zwischen Einzelkind- oder Geschwisterstatus entscheiden können, so wählen sie ohne zu zögern das zweite! Eltern für sich alleine zu haben ist vielleicht nicht so attraktiv, wie sie mit vielen Geschwistern teilen zu können. Wenn man nur Einzelkind sein kann, genießt man notgedrungen die Vorteile davon! Wenn sich besseres und Sichereres anbietet, verlieren diese Vorteile blitzartig offenbar an Attraktivität!

Wo ich das so selbstverständlich schreibe, fällt mir plötzlich was auf: Genauer betrachtet fühle ich mich in der Leitung dieser Gruppe weniger als „Mama der Nation“ als im besten Sinne Animateurin. Vielleicht ist diese „Eltern-Kind“-Metapher, die wir in der Psychotherapie gerne und manchmal passend bemühen, in dem Fall unpassend. Vielleicht fördert der Wechsel von Einzeltherapie zu Selbsterfahrungsgruppe die erwachsene Seite der KlientInnen, die sich grundsätzlich sicherer in der Gruppe fühlen, und daher nicht mehr das kindliche den Vorrang geben müssen, jedenfalls nicht in Beziehung zur Leitung.

Ihr merkt, eine Hypothese jagt die andere!

Und ansonsten? Mehrere der Teilnehmer*innen meiner Gruppe kommen erklärtermaßen auch mit Gruppenangst in die Gruppe und doch sind sie bei fast jeder Sitzung dabei. Sie haben es da deshalb nicht leicht, wollen die Gruppe aber nicht missen und fühlen sich bisher zum Ende jedes Abends besser, als sie gekommen sind. An der Struktur „Gruppe“ scheint es also nicht zu liegen, dass Menschen eine Abneigung zu Gruppen haben. Sie scheinen sich sogar dort leichter und schneller mit sich konfrontieren zu können als in einer vermeintlichen sichereren Einzeltherapie. Manches habe ich in der Gruppe über Einzelne erfahren, das in mehreren Jahren Einzeltherapie nicht zur Sprache kam.

Für die erklärte Angst vor Gruppen könnte ich viele hypothetischen Gründe anführen. Woher sie kommt, interessiert mich aber momentan nicht besonders. Was mich dabei besonders beschäftigt, ist die Diskrepanz zwischen dem offensichtlichen und erklärten Wohlgefühl, das es auslöst, Gruppenmitglied zu sein und die aber damit einhergehende Erklärung der offenbar dazugehörigen Angst vor der Gruppe – als wäre die Erklärung des bisher Bekannten (Angst) Sicherheit für das neue (Wohlgefühl in der Gruppe) notwendig!  Dem werde ich nachgehen…

 

So, jetzt höre ich aber mal auf für heute! Viele dieser Gedanken sind für mich ziemlich neu, daher allesamt Arbeitshypothesen bisher.  Mal sehen, wie sie sich weiterentwickeln. Ich würde mich freuen, wenn auch ihr von euren Praxenerfahrungen erzählen würdet und bin überhaupt gespannt auf eure Rückmeldungen!

 

Bis bald, herzlich,

Delphine

 

 

 

 

 


Mutterglück – nichts Anderes wird derart romantisiert!

MUTTERGLÜCK! Nichts anderes wird derart romantisiert!

Ein Kind als „I- Tüpfelchen einer Beziehung“, perfekte Mutter, Karrierefrau, attraktive Partnerin, Fotos von glücklich strahlenden Familien in allen möglichen Lebenslagen. In allen? Nein! Niemand postet Fotos vom riesigen leeren Hängebauch direkt nach der Geburt, von schreiroten Babyköpfchen, vom Spiegelbild der Eltern nach der fünften Nacht mit nur zwei Stunden Schlaf, von Wäschebergen, von eingerissenen Brustnippeln, von Milchpumpen, die an Brüsten hängen, von schmutzigem Geschirr und von schmerzverzehrten müden leeren Gesichtern.

All dies ist aber AUCH Realität! Und kaum jemand weiß, dass mindestens jede zehnte Frau nach der Geburt an einer Depression erkrankt. Ja, Risikofaktoren, wie psychische Erkrankungen in der Biographie, eine traumatisch erlebte Geburt, ein Frühchen, ein krankes Kind, fehlende Unterstützung usw. spielen häufig eine Rolle.

Die Romantisierung aber, diese verklärte Erwartung von überschäumenden Glücksgefühlen im Wochenbett mit uneingeschränktem Genuss zarten Babyduftes spielen eine ebenso große Rolle. Nicht zu vergessen der Wunsch und das Bestreben perfekt zu sein als Mutter.

Wird es keine Kinder mehr geben, wenn wir offen und ehrlich über diese Themen reden? Ich glaube nicht. Ich denke, es würde viel Druck nehmen, Schuldgefühle verhindern und dazu beitragen, dass Mütter entspannter in ihre neue Rolle finden können. ALLE Gefühle gehören zum Mutterwerden und Muttersein dazu, auch Traurigkeit, Wut und Verzweiflung. Es ist okay unsicher zu sein, das kleine Wesen erst einmal in Ruhe kennenzulernen und es allmählich „lesen zu lernen“. Und schon kommt der nächste Entwicklungsschritt, alles, was sich bewährt hat, wird schon wieder über den Haufen geworfen und die nächsten Unsicherheiten tauchen auf. Das ist das Projekt „Familie“, ein ständiges Experimentier- und Wachstumsfeld.

Eine frisch geborene Mutter braucht neben einer Rundumverpflegung in den ersten Wochen, eine liebevolle Begleitung in den nächsten Monaten. Sie braucht Menschen, die sie auch ein wenig „bemuttern“, die mit ihr gemeinsam diesen spannenden Weg gehen und sie dabei unterstützen, herauszufinden, was wichtig ist und was gerade nicht. Sie benötigt Neugier, Offenheit und keinen Dogmatismus. Es gibt so viele Wege Familie zu leben, wie es Familien gibt.

Ratschläge, auch wenn sie noch so gut gemeint sind, sind wenig nützlich. Hinzu kommt, dass die Hinweise häufig gegensätzlich sind. „Das Kind muss im eigenen Zimmer schlafen.“ „Du solltest das Baby immer bei Dir haben, lass es in Eurem Bett schlafen.“ „Du musst unbedingt (weiter-) stillen, es ist das Wichtigste.“ „Du solltest abstillen, dann geht’s Dir besser.“ Usw. Es ist unglaublich, was eine (werdende) Mutter alles zu hören bekommt und das in einer Lebensphase, die der Psyche eine enorme Anpassungsleistung abverlangt.

Die „Ich-Grenze“ wird durchlässig, damit die Mutter angemessen und feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen kann. Das ist biologisch sinnvoll, hat allerdings Nebenwirkungen. Die Mutter ist verletzlicher, empfindsamer. Frühere, nicht erfüllte Bedürfnisse und alte Verletzungen werden (unbewusst) aktiviert.

Ich wünsche mir einen achtsamen und behutsamen Umgang mit jungen Müttern, ein liebevolles In-Beziehung-gehen, eine Atmosphäre, in der die Mütter sich trauen über alle Gefühle zu sprechen, diese zu akzeptieren, ohne dass sie bagatellisiert oder dramatisiert werden.

Im Übrigen: Die Natur rechnet nicht mit perfekten Eltern!

Der Verein „Schatten und Licht e.V.“ (www. schatten-und-licht.de) unterstützt Frauen mit psychischen Problemen in dieser sensiblen Lebensphase.

Mareike Lange
mmlange.frankfurt@gmail.com

 

Für Sie gelesen:

Für Sie gelesen:
Wie Mythen der traumafokussierten Psychotherapie eine adäquate Versorgung erschweren. P. Herzog. T. Kaiser, A. de Jongh. In Psychotherapeuten Journal 1/2023.

Stabilisierungsphase auf dem Prüfstand

Die Autoren des oben genannten Artikels beschreiben die aktuelle Situation in der traumafokussierten Psychotherapie-Szene aus der Sicht der Kognitiven Verhaltenstherapie. Der Artikel enthält auch für GestalttherapeutInnen einige interessante Aspekte.

Kernaussagen des Artikels
1.) Psychotherapie ist ein hochwirksames Verfahren in der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
2.) Am besten erforscht sind u.a. die prolongierte Expositionstherapie, die kognitive Verarbeitungstherapie, die narrative Expositionstherapie und EMDR.
3.) Vor diesem Hintergrund erstaunt, dass in weniger als 50 % der Behandlungsfälle traumafokussierte Verfahren angewandt werden.

Grund dafür sehen die Autoren auch darin, dass viele Mythen über Psychotherapie der PTBS immerzu herrschen:

Mythos 1) Traumafokussierte Behandlungen sind nicht für komplexe und mehrfache Traumata geeignet. Diese Aussage stehe in Kontrast zu empirischen Befunden.
Mythos 2) Vor einer traumafokussierten Behandlung ist eine Stabilisierung notwendig. Auch diese Aussage stehe in Kontrast zu empirischen Befunden. Die Autoren betonen, dass durch die der Exposition vorgeschalteten Stabilisierungsphasen oft Monate vergehen, bis das eigentliche Problem behandelt werde – und das, ohne erkennbaren Nutzen.
Mythos 3) Expositionsbasierte Behandlungen sind potenziell „retraumatisierend“. Teil dieses Mythos sei es, dass das Sprechen über Traumaerinnerungen retraumatisierend sei, vor allem wenn keine Stabilisierung durchgeführt worden sei. Auch hierfür gebe es keine empirischen Belege, vielmehr sei davon auszugehen, dass die Basis dieser Behauptung anekdotisch sei. (Damit ist so etwas wie „vom Hörensagen“ gemeint).

Diskussion
Gestalttherapie arbeitet nicht mit störungsspezifischen Diagnose- und Therapiemanualen bzw. Interventionsschemata. Der Satz von Fritz Perls ist immer noch gültig: „Veränderung ist ein Lernprozess und lernen heißt, dass etwas anderes möglich ist“. Der Fokus der Arbeit liegt in der Entwicklung von etwas „Anderem“, der Klient wird angeregt, seine Ressourcen und Potenziale weiter zu entwickeln. Damit würden auch lästige Symptome und andere Defizite (wie z.B. die der PTBS) verschwinden oder schwächer werden.

In defizitorientierten Therapieverfahren wird diese Kausalität umgekehrt gesehen: Erst nach einer erfolgreichen Defizitbearbeitung ist Potenzialentwicklung möglich. Der Wahrheit letzter Schluss ist, dass keine der Reihenfolgen die richtigere ist, sondern eine zirkuläre Kausalität besteht: Potenzialentwicklung bewirkt Defizitbeseitigung und Defizitbeseitigung bewirkt Potenzialentwicklung.

JedeR GestalttherapeutIn wird sich gerade bei KlientInnen, die eine Behandlung ihrer PTBS wünschen, fragen, ob sein/ihr gestalttherapeutisches Handwerkszeug genüge oder er/sie sich nicht besser doch noch einer traumfokussierten Weiterbildung unterziehen soll. Die Möglichkeiten dazu sind zahlreich.

Es soll hier nicht von traumfokussierten Zusatzausbildungen abgeraten oder sie als überflüssig hingestellt werden. Wer sich einer solchen Zusatzausbildung unterzieht, wird sicherlich auch davon profitieren. Es ist eine Binsenweisheit, dass Erfahrung eine große Rolle für die Kompetenz von PsychotherapeutInnen spielt. Z.B. Lebenserfahrung, aber auch Felderfahrung und Fortbildungserfahrung. Wer noch nie mit kriegstraumatisierten Menschen gearbeitet hat, wird sich schwer tun, und es braucht auch seine Zeit, bis man zur adäquaten Empathie fähig ist. Bloße Sätze wie „ich verstehe Sie“ machen noch keine Empathie. Felderfahrung kann man in feldspezifischen Fortbildungen erlangen, die auch in der Form von Beistand und Einarbeitung erfahrener KollegInnen und SupervisorInnen erfolgen kann.

Vielleicht lesen Sie aber einfach erst einmal im Text weiter, der Sie in ihrer Entscheidungsfindung munterschützen könnte, falls Sie sich eigentlich jetzt gleich für eine traumfokussierten Weiterbildung anmelden wollten.

Die prolongierte Expositionstherapie wurde als Unterform der Verhaltenstherapie und kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt, um die PTBS zu behandeln. Sie besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten (siehe dazu auch den Artikel in wikipedia):

  • „In Vivo“-Exposition, d. h. wiederholte Konfrontation mit Situationen, Aktivitäten, Orten, die aufgrund von traumatischen Erinnerungen vermieden werden. Diese Begegnungen reduzieren traumabezogene Ängste und befähigen den Patienten zu realisieren, dass vermiedene Situationen nicht gefährlich sind und er mit dem Leid umgehen kann.
  • Imaginative Exposition, d. h. das wiederholte Wiederbesuchen, Wiedererzählen und Verarbeiten des traumatischen Erlebnisses. Die imaginative Exposition fördert die Verarbeitung der Traumaerinnerung und hilft eine realistische Perspektive auf das Trauma zu erlangen.
  • Kognitive Verarbeitung der Traumaerinnerung

Alle diese drei Komponenten sind GestalttherapeutInnen vertraut, sie arbeiten tagtäglich damit. So gesehen ist Gestalttherapie eine Expositionstherapie. Siehe dazu auch den Artikel von Delphine Akoun in der GestaltZeitung 2023, „Ortstermine“, wo Situationen beschrieben werden, in denen der Therapieort nach außen verlagert wird, oder der/die KlientIn etwas von außerhalb mit in die Therapie bringt. Zum Beispiel ein Musikinstrument, wenn ein „Musiziertrauma“ besteht.

So gesehen müssten GestalttherapeutInnen nicht zwingend eine traumfokussierte Zusatzausbildung absolvieren, denn die Elemente der prolongierten Expositionstherapie kennen sie schon in den Grundzügen und können sie auch anwenden.

Persönliche Mitteilung
Den aus dem Psychotherapeuten Journal zitierten Artikel habe ich mit großer Zufriedenheit und Erleichterung zur Kenntnis genommen. Seit ich psychotherapeutisch denken kann, war ich skeptisch bzgl. den Konzepten der Stabilisierung und Retraumatisierung. Ich finde, dass mit  langen Stabilisierungsphasen nicht nur unnötig Zeit vergeudet, sondern den KlientInnen auch geschadet wird, weil sie in der Regression und einer Problemtrance festgehalten werden, aus lauteren und unlauteren Motiven.

Ich hatte mich bisher allerdings mit meiner Skepsis nicht weit aus dem Fenster getraut, um ja nicht für einen Retraumatisierer gehalten zu werden. So gesehen hoffe ich, dass diese Ergebnisse uns GestalttherapeutInnen ermutigen, auch bei dem Thema PTBS unseren eigenen gestalttherapeutischen Ressourcen zu vertrauen.

Einen kleinen Einwand muss ich allerdings auch noch einbringen. So gut mir diese Ergebnisse gefallen, so fehlt mir doch der Überblick über die gesamte Literatur dazu. Möglicherweise wird es ernstzunehmende Gegenargumente zu dem zitierten Artikel geben. Sollte das der Fall sein, wird es auch dazu einen blog geben. Außerdem laden wir alle Leser ein, selbst Kommentare zum blog einzusenden, die wir dann in dieser Rubrik veröffentlich würden.

Prophylaxe, Prävention, Vorsorge

Prophylaxe, Prävention, Vorsorge – „immer das A und O“?

Delphine Akoun und Rolf Heinzmann

Den Anstoß für die folgenden Zeilen gab ein Artikel über eine Beratungsstelle für Essstörungen in einer regionalen Tageszeitung. Genauer gesagt die Aussage einer Therapeutin dieser Beratungsstelle, es sei „total wichtig, schon in jungen Jahren ein gesundes Essverhalten zu entwickeln. Prävention sei das A und O.“

Haben Sie schon den Prophylaxe-Stempel für dieses Quartal in Ihr Bonusheft von ihrem Zahnarzt setzen lassen? Ah, ja, nicht vergessen!
 Krankenkassen setzen auf Prophylaxe. Sie scheinen ausgerechnet zu haben, dass die Kosten für Vorbeugung immer niedriger ausfallen als die Kosten der Krankheitsbehandlungen. Mittlerweile ist das Konzept der Krankheitsvorsorge so selbstverständlich, dass es in der Mittelschicht keine Frage mehr ist und so auch nicht hinterfragt wird.

Bei organischen Erkrankungen, bei denen nach den Ursachen geforscht wird, da sie eher klärbar sind, mag es eine sinnvolle Maßnahme sein, vorzubeugen: es ist ja dann ein Versuch wert, im Vorfeld, die Krankheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Wenn aber die Krankheitskonzepte aus der Organmedizin auf den Bereich der psychischen und Verhaltens-Störungen ausgeweitet werden, wird es grundsätzlich problematisch. Anders als bei den organischen Krankheiten ist nämlich hier die Suche nach der Ursache meist erfolglos und damit nicht zielführend. Da Prävention aber Ursachen braucht, um wirksam sein zu können, ist sie für den psychischen Bereich in den allermeisten Fällen mindestens unbrauchbar, wenn nicht kontraproduktiv.

Dennoch scheint die Verführung zur Vorsorge groß. Denn sie wird unbeirrt empfohlen, obwohl allen klar sein dürfte, dass die Ursachen psychischer Störungen nie eindeutig sind.

Übergewichtige Erwachsene, zum Beispiel, haben oft eine Essstörung entwickelt: im besten Fall essen sie normal viel und hassen sich dafür, dass sie überhaupt essen, sie hören beim Essen die maßregelnden Stimmen der Eltern, sie essen zu viel, denn: wozu das Wenige essen? Oder essen viel zu wenig, denn vielleicht hilft es ja doch. Sie fühlen sich auch im übertragenen Sinne zu viel. Gründe für die Erkrankung sind schnell benannt: falsche Ernährung und falsches Essverhalten in der Kindheit. Falsche Ernährung wird oft auf „zu viel Essen“ reduziert.

Und schon liegen die Vorsorge-Maßnahmen gegen Übergewicht und damit für psychische Gesundheit auf der Hand – die meisten übergewichtigen KlientInnen berichten davon: in ihrer Herkunftsfamilie wurde das Essen bzw. die Nahrungsaufnahme als etwas Problematisches angesehen und behandelt, und nicht als etwas, das auch Freude bereiten kann. Viele Übergewichtige wurden schon in jungen Jahren darauf hingewiesen, zu dick zu sein. Beim Betrachten eigener Fotos aus dieser Zeit wundern sie sich heute umso mehr darüber: häufig ist da ein ganz normalgewichtiges Kind zu sehen. Viele Übergewichtige berichten übereinstimmend, dass mit der ersten Diät das Unheil seinen Lauf genommen hatte.

Welche Wirkung diese Art von Prophylaxe im Kindesalter hat, sehen wir bei unseren übergewichtigen KlientInnen. Unter anderem leiden sie oft unter ihrem Übergewicht, fühlen sich unverstanden und oft nicht zugehörig. Sie haben kein inneres Maß und kein ihnen gemäßes Bild ihrer Körper. Sie verzweifeln oft daran, der Norm nicht zu entsprechen und haben auch oft einen niedrigen Selbstwert.

Dass Eltern es nicht besser wissen und ihre Kinder vor Übergewicht schützen wollen, indem sie sie beim Essen maßregeln und ihr Gewicht problematisieren, ist also problematisch. Noch bedenklicher ist allerdings, wenn Fachkräfte des psychosozialen Bereiches den Prophylaxe- Begriff völlig unreflektiert zum Beispiel im Zusammenhang mit Essstörungen öffentlich verwenden.

Gerade in Deutschland wollen interessierte Eltern es besonders gut machen. Sie verlassen sich bei der Erziehung ihrer Kinder oft auf die Meinung von Fachkräften.

Noch generalisierter gesehen müsste man grundsätzlich bei allen pädagogischen Maßnahmen die erwünschten Wirkungen den unerwünschten Nebenwirkungen im Vorfeld gegenüberstellen. Wenn bei einem befürchteten „Entwicklungsdefizit“ eines Kindes Fördermaßnahmen ergriffen werden, dann wäre die erwünschte Maßnahme die Beseitigung oder Reduktion des Defizits. Eine mögliche Nebenwirkung wäre hier, dass sich das Ganze negativ auf das Selbstwertgefühl des Kindes auswirkt. Denn allein die Tatsache der Förderung impliziert eine Haltung „So wie du bist, bist du nicht in Ordnung“. Ein weitere Nebenwirkung wäre die Schwächung der Autonomiebestrebung des Kindes seinen Eltern gegenüber, die ihm/ihr kein Vertrauen in seine Selbstregulation und eigenen Entwicklungsrhythmus vermitteln und besser wissen, was für ihn/sie gut ist: „Wir wollen ja nur dein Bestes.“

Wenn zu der Vermeidung von Essstörungen Prophylaxe gefordert wird, dann müsste man sie konsequenterweise bei allen möglichen psychischen oder Verhaltens-Störungen fordern: Depressions-, Angst- und Panik -, Perfektionismus-, Psychose- und Narzissmuspräventionsmaßnahmen wären eigentlich angesagt, um nur wenige zu nennen. Da eine Generalprävention für alle psychischen Störungen nun nicht wirklich vorstellbar ist, müsste man schon im Kleinkindalter eine Art Diagnose-Prognose entwickeln, aufgrund deren festgelegt würde, welche besondere Prävention das Kind bekommen sollte. So beschrieben ist es eine absurde Vorstellung, doch in der Praxis wird sie, unterstützt von solchen Forderungen nach mehr Prophylaxe, öfter umgesetzt als man denkt. Die Liste der negativen Implikationen, die ein solcher Umgang mit Kindern zur Folge haben kann, ist leicht zusammenzustellen.

Und jetzt? Was sollen wir denn machen, wenn wir sehen, dass unsere Kinder gerade zunehmen, die stets steigenden Übergewichtsraten von Kindern und Jugendlichen regelmäßig in der Presse lesen und von Fachkräften Prophylaxe als A und O empfohlen bekommen – werden Sie vielleicht fragen.

Wenn wir das wüssten! Wir sind nicht die besseren Pädagogen oder Eltern. Wir wollen und können daher lediglich für die Haltung des Nicht-Wissens werben und aus Louis Armstrong’s Lied „What a wonderful world“ in die Welt hinaussingen:

„I hear babies cry
I watch them grow
They learn much more
Than I’ll never know“